Die Inflation der Vorschriften
Autor: Julia Jäkle
Veröffentlicht am: 28.08.2024 Lesedauer: 3 Minuten
Inhaltsverzeichnis.
1
Inflation der Wörter
2
Formulierung universeller Regeln
3
Manöver des letzten Augenblicks
4
Wörtliche Auslegung oder Interpretation?
5
Übertrag auf Managementsysteme
6
Vorteile der Befähigung
7
Welchen Weg gehen Sie?
🥡 Take-Away Botschaft.
Der Blog-Beitrag beleuchtet die Bedeutung der Intention hinter Regeln gegenüber detaillierten Vorschriften im Managementsystem.
Im Medizintechnikbereich wird empfohlen, Mitarbeitende zu befähigen und die zugrunde liegenden Ziele von Prozessen zu vermitteln, anstatt endlose detaillierte Vorschriften zu erstellen. Dies fördert nicht nur Flexibilität und Effizienz, sondern steigert auch das Engagement und die Arbeitszufriedenheit, wie das Job-Demands-Ressource-Modell von Bakker und Demerouti zeigt.
Inflation der Wörter
Vor ziemlich genau 50 Jahren am 14.07.1974 zitierte der Spiegel den damaligen Präsidenten des Bundesverbandes deutscher Banken Alwin Münchmeyer mit den Worten:
«Das Vaterunser hat 56 Wörter, die Zehn Gebote haben 297 und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300. Aber eine Verordnung der EWG-Kommission über den Import von Karamellen und Karamelprodukten zieht sich über 26 911 Wörter hin.»

EU Flaggen vor dem Parlament
Formulierung universeller Regeln
Auch wenn diese Zahlen nicht ganz stimmen, und es die genannte Verordnung gar nicht gibt, so wird doch eines klar: Je universeller Regeln sind, desto einfacher müssen Sie formuliert werden. Schliesslich sollen Sie von allen verstanden werden.
Einfache und prägnante Aussagen haben aber auch immer eine gewisse Unschärfe. Diese Unschärfe ist der Graubereich, der wenn die Regel nur auf das Wort ausgelegt wird, ausgenutzt werden kann. Wird die Regel aber auf Ihre Intention hin ausgelegt, fällt es schon schwerer, diese guten Gewissens auszunutzen.
Manöver des letzten Augenblicks
In der Schifffahrt gilt beispielsweise die Regel Backbordbug vor Steuerbordbug. Also das Schiff, das sein Segel auf der Backbordseite hat, hat Vorrang vor dem Schiff, das sein Segel auf der Steuerbordseite hat. Die Intention der Regel ist klar durch Schaffen von Klarheit sollen Kollisionen vermieden werden. Nun kann es aber passieren, dass das ausweichpflichtige Schiff manövrierunfähig ist und das sture Einhalten der Regel zu einer Kollision führen würde. Daher gibt es das Manöver des letzten Augenblicks. Auch wenn dieses Manöver wieder durch eine Regel abgedeckt ist, so ist die allgemeine Auslegung, dass im letzten Moment die «Backbordbug vor Steuerbordbug–Regel» über Bord geworfen wird, und schlichtweg alles dafür getan wird, dass es eben nicht zu einer Kollision kommt.
Der Sinn der Regel ist so klar, und zugegebenermassen für alle Beteiligten im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig, dass niemand bis zum Schluss auf sein Vorrangrecht bestehen würde.
Wörtliche Auslegung oder Interpretation?
Aber es geht auch anders herum.
Nehmen wir die aktuell vorgeschlagene Gesetzesänderung der deutschen Innenministerin zur Verschärfung des Waffengesetz. Neu sollen Messer in der Öffentlichkeit nur noch mit einer Klingenlänge von sechs statt bisher 12 Zentimetern erlaubt sein. Lassen wir einmal die Diskussion über die Effektivität der Gesetzesänderung weg. Allen ist die Intention klar, dass mit der Änderung weniger Waffen getragen werden sollen und so weniger kriminelle Angriffe geschehen. Da es aber ein Gesetz ist, wird es auf das Wort hin ausgelegt, und daher müssen schon die ersten Ausnahmen definiert werden. So dürfen Haushaltsmesser in geschlossenen Behältnissen nach dem Kauf weiter in der Öffentlichkeit bei sich getragen werden. Heisst das, wenn ich zu dem Geburtstagspicknick einer Freundin eingeladen bin und dort eine Torte mitbringen möchte, ich kein in ein Geschirrtuch gewickeltes Kuchenmesser mitnehmen darf? Gemäss meiner Interpretation der Intention des Gesetzes sollte das weiterhin erlaubt sein. Wird es das im niedergeschriebenen Gesetzestext auch sein?
Das bringt uns zu einer anderen Schwierigkeit – wer bestimmt, was die Intention einer Regel ist? Was ist die «wahre» Interpretation?


Übertrag auf Managementsysteme
Brechen wir das herunter auf ein Managementsystem, heisst das, wir haben zwei Möglichkeiten die Prozesse aufzusetzen. Entweder wir geben sehr detailliert vor, wie die einzelnen Schritte umzusetzen sind, oder wir investieren in die Befähigung der Mitarbeitenden und erklären die Intention der Prozesse. Also einfach gesagt, wir schulen unsere Mitarbeitenden.
Vorteile der Befähigung
Fokus auf relevante Aspekte
Die Befähigung hat mehrere Vorteile. Zum einen kann der Fokus auf die relevanten Aspekte eines Prozesses gelegt werden. Nehmen wir an in der Qualitätskontrolle gibt es eine visuelle Prüfung einer Oberfläche. Dazu gibt es auch einen Fehlerkatalog. Kennt der prüfende Mitarbeitende nicht nur die kritischen Merkmale, sondern weiss auch welche Funktion die Oberfläche hat, ist er in der Lage Abweichungen zu beurteilen, auch wenn der Katalog nicht alle Eventualitäten abdeckt. Der Fehlerkatalog kann entsprechend kürzer ausfallen und viele Rückfragen beim Vorgesetzten, der Entwicklungsabteilung oder dem Vertrieb entfallen.
Effektivität
Zum anderen kann die Regel ihre Effektivität wirklich entfalten. In der EN ISO 13485:2016 ist für interne Audits definiert, dass Auditoren ihre eigene Tätigkeit nicht auditieren dürfen. Logisch, man selbst findet ja gut, was man macht und gegebenenfalls selbst entwickelt hat, sonst würde man es ja anders machen. Die Wahrscheinlichkeit Verbesserungspotenziale zu identifizieren, ginge also gegen Null. Einige Firmen legen diese Anforderung aufgrund personeller Schwierigkeiten entsprechend eng aus, so dass z.B. bei der Auditierung des QM-Bereichs in die Trickkiste gegriffen wird, und der Quality Associate seinen Manager bezüglich der QM-Strategie auditiert. Streng genommen gehört die Strategieentwicklung ja nicht zum Aufgabengebiet des Associates. Die Anforderung ist also erfüllt. Aber ist der Sinn, Verbesserungspotentiale zu identifizieren immer noch gegeben? Abgesehen von einer möglichen Betriebsblindheit, muss die psychologische Sicherheit in dieser Konstellation schon sehr hoch sein, um ein wirksames Audit durchführen zu können. Haben wir die Intention der Anforderung verstanden, würden wir wahrscheinlich erkennen, dass die Ressourcen sinnvoller in die Qualifikation eines teamfremden Mitarbeitenden investiert wären als in die Durchführung eines wirkungslosen Audits.
Höheres Mitarbeiter-Engagement
Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Vorteil Mitarbeitende zu befähigen ist natürlich die Stärkung der Selbstbestimmtheit der Mitarbeitenden und eine mögliche Erhöhung der Autonomie. Gemäss dem berühmten Job-Demand-Ressource-Modell von Bakker und Demerouti werden so Ressourcen geschaffen und das Engagement und die Zufriedenheit von Mitarbeitenden gesteigert.
Durchbrechen des Teufelskreises
Und nicht zuletzt durchbrechen wir den Teufelskreis, dass jede noch so detaillierte Vorschrift einen Graubereich hinterlässt, der durch noch detailliertere Vorschriften eliminiert werden soll. So dass wir am Ende bei den 26 911 Wörtern der Karamellerzeugnisse sind.
Welchen Weg möchten Sie gehen?
...und übrigens, die korrekte Wort-Anzahl ist folgende:
Das Vaterunser hat 63 Wörter, die Zehn Gebote haben 286 und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1333.
Und auch wenn es die Verordnung über Karamellerzeugnisse nicht gibt, so zählt 50 Jahre nach der Aussage die Verordnung (EU) 2017/745 MDR ganze 90 516 Wörter.
Viel Spass beim Lesen!

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Julia Jäkle
Inhaberin mindsys
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